Achter Schritt

„Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten, und wurden willig, ihn bei allen wieder gut zu machen.

Irgendwann einmal sind wir in die Meetings der Anonymen Spieler gekommen und haben gehört, dass das Gestern vergangen ist, dass wir keine einzige Tat, keine getätigte Aussage, keine Verletzung ungeschehen machen können. Auch das Morgen haben wir nicht unter unserer persönlichen Kontrolle, weil das Morgen noch nicht geboren ist. Heute ist somit der einzige Tag, den wir ganz bewusst leben und gestalten können. Das hörte sich alles ganz gut für uns an, bei der Altlast unseres Lebens.

Und jetzt sollen wir uns beim 8. Schritt auf einmal doch wieder mit all dem alten Gram befassen, den wir doch endlich abhaken und vergessen wollen? Sollen all die alten Leichen aus dem Keller holen? Hört das denn nie auf?! Immer und immer wieder holt uns unsere unrühmliche Vergangenheit ein. Jetzt spielen wir nicht mehr, und sollen uns immer noch mit dem ganzen alten Zeug beschäftigen? Was will uns dieser Schritt also wirklich sagen?

 

Das Neue Leben führt nur über die Schritte acht und neun

 

Im achten und neunten Schritt geht es um einen wichtigen Teil unserer Vergangenheitsbewältigung, um die Wiederherstellung und Ordnung unserer Beziehung mit anderen Menschen. Es geht darum, dass wir nach dem neunten Schritt mit unserer Vergangenheit in Frieden abschließen können.

Doch es geht bei diesen Schritten immer auch um unser zukünftig neues Leben. Trotz des Bemühens um Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Toleranz gegenüber unseren Mitmenschen, werden wir immer wieder andere Menschen kränken und verletzen, auch wenn wir die Ergebnisse unserer Inventuren im vierten und zehnten Schritt mit einbeziehen.  

Somit wird der achte, genauso wie der neunte Schritt, ebenfalls zu einer weiteren wichtigen (Dauer)-Aufgabe auch unseres neuen Lebens werden.

Wenn wir in unserem Leben auf gesunder Basis, in nüchternem Denken und stabiler Spielfreiheit neu anfangen wollen, gehören die Schritte acht und neun unweigerlich mit dazu. Sonst befinden wir uns in andauernder Fluchtbewegung vor unserem alten Leben, vor der Vergangenheit.

Ganz zu Anfang des 8. Schrittes steht da, dass wir eine Liste machen sollen. Eine Aufstellung von Namen. Und hinter jedem dieser Namen steht eine reale Person, ein Mensch, der uns in der Regel sehr nahe stand, oder auch immer noch steht. Der vielleicht die ganze Wegstrecke unserer Sucht nicht von unserer Seite gewichen ist und uns durch all die tiefen, dunklen Täler begleitet hat. Viele haben nur durch solch eine, teilweise bedingungslose, Begleitung überhaupt erst die Ausgangstüre aus der Sucht gefunden und den Übergang in ein neues Leben geschafft. Oft waren wir durch diese Begleiter schon auf dem Genesungsweg, als der Begleiter, am Ende seiner psychischen Kräfte angekommen, unter seiner eigenen Co-Abhängigkeit völlig zusammenbrach und sich selbst dringend Hilfe suchen musste. Andere hingegen haben wir auf unserem Horrortrip durch die Spielsucht schlicht und einfach ausgebeutet, und am Ende verbrannt und verbraucht zurückgelassen. Alle diese Menschen verdienen es, dass wir uns persönlich aufmachen und uns bei ihnen aufrichtig und ehrlich entschuldigen, für den Kummer, das Leid und den Schmerz, den wir ihnen während unserer Suchtzeit angetan haben. Den wir verursacht haben. Ja, und auch für den finanziellen Schaden, den wir dabei hinterlassen haben.

Wir sind folglich Täter und gleichzeitig Opfer unserer Sucht geworden. Opfer auch, weil wir uns selbst immer wieder aufs Neue zutiefst verletzt und enttäuscht haben. Somit gehören auch unsere Namen auf diese Liste. Auch an uns selbst sollten wir Wiedergutmachung leisten.

Und auch wir wurden während unserer Suchtzeit wiederum von anderen oft tief verletzt. Doch darum müssen nicht wir uns kümmern. Wir erledigen und erfüllen ausschließlich unseren Teil in den Schritten acht und neun. Den Rest können wir getrost unserer höheren Macht übergeben.

Heute wissen wir, dass wir verantwortlich sind. Niemand außer uns selbst. Niemand hat uns zum Spielen und zur Spielsucht gezwungen. Niemand hat uns dazu genötigt, solch eine Schneise der Verwüstung und Zerstörung im Leben anderer Menschen zu hinterlassen. Egal, wie beschissen auch immer unser Start ins Leben war, wie unsere Lebenssituation sich vielleicht angefühlt und dargestellt hat, die Entscheidung, es an die Wand zu klatschen, ohne Rücksicht auf Verluste, die haben wir getroffen. Nur wir, und niemand anderes.

So werden einige vielleicht gar keine handschriftliche Liste fertigen müssen, weil die Menschen, bei denen wir Wiedergutmachung leisten müssen, in unser Gehirn eingebrannt sind. Eingebrannt mit dem Brandeisen unseres Gewissens. Unseres schlechten Gewissens. Wie in einer Matrix sind sie in unserem Denkapparat hinterlegt. Gesicht um Gesicht, Vorkommnis um Vorkommnis, Verletzung um Verletzung. Eine Matrix, die ihren abgespeicherten Film, immer und immer wieder, ganz von selbst in unserm Kopf abspielt. Wir können davor weglaufen, wohin auch immer, bis ans Ende der Welt, der Film in unserem Kopf, mit all seinen Teilnehmern, wird uns stets auf unserer Flucht begleiten und uns regelmäßig sein Gastspiel von Neuem geben.

Nein, wir haben keine andere Wahl, wenn wir wirklich von der Sucht genesen und geistig gesund und nüchtern werden wollen. Wir werden die Aufstellung der Namen dieser Matrix machen müssen. Wir kommen nicht darum herum. Ein Rauswinden wie sonst so oft im Leben, ist hier nicht möglich. Es gibt nur den einen, den geraden Weg.

Nur, wenn wir die Schritte acht und neun aufrichtig und ehrlich gehen, können wir auch wirklich unser altes Leben und damit unsere Vergangenheit abschließen.

 

Auf der Flucht

 

Im Prozess des Spielfrei- und geistig Nüchtern-Werdens, entsteht bei den meisten Suchtkranken anfänglich oft auch der unwiderstehliche Drang, ganz neu anfangen zu wollen. Wir wollen ausbrechen aus unserer Familie, unserem alten Freundes- und Bekanntenkreis, unserem Wohnort, aus unserem Beruf, unserem Arbeitsleben. Wir meinen, die hauptsächliche Schuld, die Ursachen unseres süchtigen Spielens, unseres Versagens, liegen vordergründig an den Personen und Lebensumständen unserer Vergangenheit.

Das mag in Teilen vielleicht bei einigen durchaus zutreffen. Sucht hat richtigerweise auch immer etwas mit unserer Vergangenheit zu tun, und somit auch mit den Menschen, die dazu gehören. Die Vergangenheitsbewältigung ist ein zentraler und absolut wichtiger Teil einer jeden Suchttherapie, genauso wie bei unserer Inventur im 4. Schritt.

Doch reine Schuldzuweisungen führen nicht zu einer dauerhaften Spielfreiheit. Im Gegenteil, sie halten uns nur weiter im Kreislauf der Sucht gefangen, nageln uns darin fest.

Wenn wir weiterhin die Schuld unserer Sucht nur bei anderen suchen, kommen wir niemals bei uns selbst und unserer eigenen Verantwortung für unser Leben an.

Wichtig ist, dass wir auf keinen Fall vergessen dürfen, dass die „Krankheit Spielsucht“ uns irgendwann auf unserem Weg auch völlig übernommen hat. Dass wir ab irgendeinem Zeitpunkt „Spielen mussten“, weil wir süchtig nach dem Spielen geworden sind. 

Wenn wir also nur vor unserer Vergangenheit, vor unserem alten Leben flüchten, wird die Krankheit Spielsucht stets mitgehen, immer als unser „Reisebegleiter“ dabei sein.

Deshalb kommen wir nicht darum herum, zuerst die Beziehungen zu Menschen aus unserem alten Leben in Ordnung zu bringen, um wirklich „NEU“ anfangen zu können. Materiell entstandene Schäden können wir im Laufe der Zeit meist unproblematisch lösen. Schwierig, und auch unangenehmer, wird es bei den seelisch-moralischen Schäden und Verletzungen, die im zwischenmenschlichen Verhältnis durch uns entstanden sind. Es gehört zu einem „Nüchternen Neuen Leben“ unweigerlich mit dazu, dass wir uns, aufrichtig und ehrlich, persönlich bei den Menschen entschuldigen, denen wir, auf welche Art und Weise auch immer, Schaden zugefügt haben.

Sonst werden wir nicht zur Ruhe kommen. Sonst sind wir ständig auf der Flucht vor uns selbst. Das will der 8. Schritt uns am Ende wirklich sagen.

Die, die schon länger in den Gruppen sind, haben manchen Freund, manche Freundin, in all den langen Jahren bei den Anonymen Spielern erlebt, die an ihrer nicht aufgearbeiteten Vergangenheit und der mangelnden Bereitschaft Wiedergutmachung zu leisten, gescheitert und wieder Spielen gegangen sind.

Die Vergangenheit lässt uns nämlich solange nicht in Ruhe, bis wir ehrlich versuchen, den Schaden, den wir bei anderen Menschen, aber auch an uns selbst, angerichtet haben, soweit es in unserer Macht steht, wieder gut zu machen. Wir kommen nicht umhin, uns dem Gestern zu stellen, sonst steht sie irgendwann wieder vor unserer Tür:

 

Die Vergangenheit! 

 

  • Dann steht er da, der Freund, den wir um Geld beschissen, und uns nie mehr bei ihm gemeldet haben.
  • Dann steht er da, der Arbeitskollege, der unseren Kram mit aufarbeiten musste, weil wir ständig geistig abwesend und unser Spielerhirn gar nicht mehr fähig war, unserer Tätigkeit noch ordentlich nachzukommen.
  • Dann steht er da, der Mensch, den wir aus unserer emotionalen Erkrankung heraus zutiefst beleidigt und verletzt haben.
  • Dann steht er da, der Mensch, in dessen Seele wir eine Wunde geschlagen haben, die ohne Wiedergutmachung nie zu heilen beginnen wird. 
  • Dann steht er da, der Chef, dessen Geld wir unterschlagen und verzockt haben.
  • Dann steht sie da, die Verwandtschaft, der wir nicht mehr unter die Augen kommen dürfen.
  • Dann stehen sie da, die Menschen unserer engsten Beziehungen, die wir nur belogen, betrogen, beschissen, benutzt, zutiefst verletzt, enttäuscht und ausgebeutet haben.

 

Irgendwann steht irgendetwas von all dem wieder vor uns. - Garantiert!

 

  • Dann kommt es zurück, das schlechte Gewissen.
  • Dann kommt sie zurück, die Angst, die uns immer vor allem davonlaufen ließ.
  • Dann kommt er zurück, der Drang nach dem nächsten Spiel, nach dem nächsten Schluck Alkohol; der Drang nach Betäubung, nach dem uns nicht spüren wollen.

 

Nein, die Vergangenheit gibt uns erst Ruhe, wenn wir uns ihr mit der richtigen Verantwortung gestellt haben. Wenn wir den Mut aufgebracht haben, das wieder gut machen zu wollen, was in unseren Möglichkeiten liegt. Ob der andere diese Wiedergutmachung annimmt, oder ablehnt, ist zweitrangig. Wir sind aufgefordert, uns dem Chaos zu stellen, das wir veranstaltet haben. Wir sind aufgefordert, den Frieden mit uns und unserer Vergangenheit zu schließen, sonst werden wir nicht zur Ruhe kommen.

Bedauernswert sind diejenigen, die meinen: „Außer mir selbst und meinem Geldbeutel, habe ich niemandem geschadet.“