Dritter Schritt
„Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes – wie wir Ihn verstanden – anzuvertrauen.“
Als wir uns näher und ernsthaft mit dem 3. Schritt beschäftigten, waren die meisten von uns schon eine gewisse Zeit von ihrem letzten Spiel entfernt. Wir sind in den Meetings zunehmend mit uns und unserer Geschichte etwas zur Ruhe gekommen. Unsere Gedanken wurden klarer, unsere Sorgen weniger, unsere Ängste geringer, unser Vertrauen in eine bessere Zukunft immer größer und greifbarer. Wir befanden uns jetzt auf dem Weg der Genesung, waren größtenteils angekommen im 12-Schritte-Programm.
Durch unsere vorbelhaltlose Kapitulation im 1. Schritt und der langsam, aber stetig gewonnenen Erkenntnis, dass wir durch einen einfachen Glauben an eine höhere Macht unsere geistige Gesundheit wiedererlangen können, wuchs auch das persönliche Vertrauen in diese Kraft, größer als wir selbst, wie auch immer jeder einzelne sie für sich persönlich definierte.
Und so stellten wir uns beim Nachdenken über den 3. Schritt bewusst die Fragen: Wie war das denn jetzt mit unserer bisher erreichten Spielfreiheit? Wieso hat es in der Gruppe, durch die Teilnahme an den regelmäßigen Meetings, bei so vielen von uns auf einmal funktioniert? Warum ist dieser vormals unwiderstehliche Drang „Spielen zu müssen“ auf einmal deutlich geringer geworden, ja teilweise über große Zeiträume sogar ganz von uns gewichen? War das jetzt alles, vor allem bei so vielen von uns, nur Zufall, oder hatte es vielleicht doch etwas mit unserer Kapitulation und der Annäherung, dem Beginn des Glaubens an eine höhere Macht, größer, und somit auch stärker, spürbar stärker als wir selbst, zu tun?
Fragen, für deren Suche nach Antworten es sich lohnt darüber nachzusinnen.
Unser Ego verhindert den wirklichen Glauben an Gott
Ja, und beim Nachsinnen fällt uns zunehmend auf, dass da doch viel Unerklärliches auf unserem Weg in den Gruppen passiert ist. Wir hören uns selbst und andere Freunde darüber sprechen, dass es für uns teilweise nicht mehr nachvollziehbar ist, wie wir auf einmal von heute auf morgen mit dem Spielen aufhören konnten, wo es doch vorher über Jahre und Jahrzehnte nicht geklappt hat. Wir können es uns selbst nicht wirklich erklären. Es fühlt sich für viele von uns wie ein Wunder an. Ein Wunder der Befreiung aus einer würgenden Umklammerung. Irgendetwas scheint in jedem von uns einfach passiert zu sein.
Vielleicht haben wir es aber auch jetzt auf einmal erst richtig verstanden, wo unsere Reise wirklich hingeht. Vielleicht haben uns die Erzählungen der anderen endlich unser wahres Gesicht, unseren wahren Charakter widergespiegelt. Vielleicht ist bei uns allen ja auch endlich der Groschen gefallen. Vielleicht … Vielleicht… Vielleicht …
Ein wenig viel Vielleicht, nicht wahr? Und haben wir das alles nicht vorher auch schon zur Genüge gehört?
Das wahrscheinlichste von allen „Vielleichts“ ist aber, dass diese höhere Macht des 2. Schrittes, dieser Gott des 3. Schrittes wirklich existiert und in unseren Meetings spür- und greifbar wird. Wir dürfen dabei vor allem nicht vergessen, dass wir uns jetzt in einer spirituellen 12-Schritte-Gruppe befinden. Einer Gruppe, die durch ihr Programm und den gemachten Erfahrungen vieler der regelmäßig Anwesenden einer spirituellen Kraft Raum lässt. Dadurch erweitert sich bei vielen von uns der bisher eingeschränkte Blickwinkel auf Spiritualität und schafft eine kleine Öffnung in unseren Herzen, damit diese Kraft, größer als unser Selbst, ganz real nun auch in unser Leben treten kann.
So beginnt meist jeder Weg des Glaubens an einen Gott, oder an eine höhere Macht, oder wie auch immer jeder diese spirituelle Kraft für sich definiert und betitelt. Gott ist dabei nur ein Wort, ein Begriff, den die Menschen gewählt haben, um diese Dimension des Unvorstellbaren personifizieren und ihr einen Namen geben zu können, wie bei allem anderen auch.
Wenn der süchtige Spieler wirklich einmal am Ende seiner eigenen Kräfte, seiner persönlichen Lebensweisheiten, an der Grenze seiner eigenen ihm gegebenen Möglichkeiten angekommen ist, wenn er auf allen Ebenen aufrichtig, ehrlich und vorbehaltlos vor der Sucht und sich selbst kapitulieren musste, sind die Voraussetzungen für Veränderung in ihm geschaffen worden. Das bezieht sich auf alle Suchtkranken. Und dann kann auch geistiger Raum in uns frei werden, wenn wir dafür bereit und offen sind, uns darauf einlassen, damit unser krankhaftes Ego, unsere Ich-Bezogenheit, alles alleine bewältigen zu können, alles alleine schaffen zu wollen, langsam weichen muss und der es nun zulässt, damit auch dieser Gott in unser Leben treten kann. Denn unser krankhafter Egoismus ist der wirkliche, der wahre Feind in unserem Leben, den es für einen jeden von uns – bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger – einzudämmen und zu bekämpfen gilt, nicht nur das reine süchtige Verlangen nach dem Glücksspiel. In den nachfolgenden Schritten werden wir diesen wahren Feind in uns noch näher und besser kennenlernen.
Das heißt in Klarsprache: „An dem Punkt, an dem es dem süchtigen Spieler am beschissensten in seinem Leben geht, entsteht in ihm dadurch auch gleichzeitig das größtmögliche geistige Potenzial, um diese höhere Macht, um diesen Gott wirklich und real spüren und erfassen zu können. Wir erleben in diesem Moment die spirituelle Eröffnung einer Kraft in uns, die nicht aus uns selbst kommt; und die es uns, wie durch ein Wunder, auf einmal ermöglicht, dass wir zur Ruhe kommen in den Turbulenzen unseres Lebens. Die es uns auf einmal ermöglicht die Sucht zum Stillstand zu bringen. In uns ist ein Gefühl gewachsen, dass wir von nun an nicht mehr spielen müssen!“
Ein Geschenk, das wir nicht ablehnen sollten
Der Kanal zum wirklichen Glauben ist in diesen entscheidenden Momenten für uns geöffnet. So haben es viele von uns erlebt. Dieses Phänomen ist nicht erklärbar, in der Tiefe nicht beschreibbar, sondern nur erlebbar. Nur individuell erlebbar. Es ist somit durchaus als eine Gnade anzusehen. Eine Gnade für diejenigen, die an die natürlichen Grenzen ihres Lebens geführt wurden, egal ob mit oder ohne Sucht in ihrem Rucksack. Sie ist als ein persönliches Angebot und als Vertrauens-Vorschuss Gottes an uns zu verstehen. Und Gnade ist immer ein Geschenk. Ich kann sie mir weder erarbeiten, noch verdienen, noch erkaufen, noch erschleichen, noch erzwingen, noch rauben oder stehlen. Die Gnade ist unserer Kapitulation somit als Geschenk für unseren weiteren Genesungsweg beigefügt. In den Schritten zwei und drei können wir dieses Geschenk annehmen und unser Leben der Fürsorge dieser Kraft übergeben.
Und das ist keine große Sache, wie die meisten denken. Dazu ist keine kirchliche oder religiöse Zeremonie mit Weihrauch, Orgelmusik und Kerzenschimmer hinter irgendwelchen verstaubten Kirchentüren und fünfzehn uns dabei begleitenden Halleluja-Ausrufen notwendig. Wir brauchen bei niemanden dabei irgendeinen Schwur, Eid oder dergleichen ablegen. Nein, es ist nichts von alledem. Es ist eine ganz persönliche Angelegenheit, eine ganz persönliche Beziehung und Bindung, die wir mit der höheren Macht, dem Gott unseres Verständnisses, dabei eingehen.
Ein persönlicher Glaube – eine persönliche Entscheidung
Wir in den Gruppen können also immer nur davon erzählen, wie wir unseren Glauben gefunden haben, wie wir in eine ganz persönliche Beziehung mit Gott gekommen sind und diesen auf unserem Genesungsweg und in unserem Alltag erleben. Was der andere am Ende daraus macht, liegt zu keiner Zeit in unserer Hand. Und das ist auch gut und richtig so, denn Glaube ist eine ganz persönliche Entscheidung.
Jeder muss sich also schlussendlich selbst aufmachen und darauf einlassen, wenn er vom dritten Schritt hört, den Schritt für sich als wichtig wahrnimmt und davon angesprochen fühlt. Und auch all die Glaubenserfahrungen, die wir in unserem Leben gemacht haben, die nutzen dem anderen eigentlich sehr wenig. Denn sie waren, und sind, nur unsere jeweils ganz persönlich gemachten Erfahrungen, die wir individuell mit unserer höheren Macht gemacht haben. Die nur wir alleine, an ganz speziellen Orten, zu ganz besonderen Zeiten, und in ganz persönlichen Lebensphasen, in welchen uns unser Gott ganz direkt angesprochen hat, gemacht haben. Jeder einzelne, der den Entschluss gefasst hat seinen Willen und sein Leben der Fürsorge Gottes anzuvertrauen, der zum Glauben gekommen ist, steht in erster Linie immer in seiner ganz persönlichen Beziehung zu Gott, dann erst zur Gemeinschaft; oder auch zu seiner Gemeinde, sollte er sich in einer befinden. So war und ist es bei uns allen.
Es gibt viele Menschen, nicht nur in den 12-Schritte-Gruppen, die wie wir auf der Suche nach einem Zugang zum Glauben waren, und sind. Die Interesse an einer wirklichen Begegnung mit Gott haben. Meist dann, als sie sich irgendwann einmal angesprochen fühlten. Sei es beim Wandern, beim Innehalten und Betrachten der Schönheit unserer Natur. Oder sei es bei einem Vortrag, bei einem Gottesdienst, beim Lesen eines Buches, beim Schauen eines Filmes, beim Erzählen eines Bekannten oder Freundes, in einem Meeting der Anonymen Spieler beim Vorlesen der 12 Schritte, oder wo auch sonst immer. Oft wächst dann die Bereitschaft, mehr von diesem Gott zu erfahren. Was sich letztlich dann meist als schwierig erweist, ist die schon angesprochene Frage danach: „Wie können wir Vertrauen zu Gott, zu einer Macht, größer als wir selbst, deren Gegenwart nicht real sichtbar, anfänglich gar nicht spürbar ist, denn überhaupt finden und aufbauen?“
Wenn wir es uns wie die Beziehung betrachten, die wir mit einem anderen Menschen eingehen, ist es vielleicht am besten zu verstehen. Wir verbringen dann meistens viel gemeinsame Zeit miteinander, vor allem wenn es sich um eine neue Liebe handelt. Wir tauschen uns aus, erkunden, wo wir gemeinsame Interessen haben, und versuchen zu verstehen was dem anderen wichtig ist, was der andere mag, wie der andere denkt und fühlt. Langsam und stetig bauen wir immer mehr Vertrauen zu diesem Menschen auf und irgendwann einmal fragen wir uns ernsthaft, ob wir nicht eine Beziehung, eine feste Bindung mit ihm eingehen sollten; ob wir zukünftig mit ihm als Partner gemeinsam durchs Leben gehen wollen.
Was wir aus unseren persönlichen Erfahrungen berichten können, ist, dass wir von Gott immer Antworten auf unsere Fragen bekommen werden. Nicht immer sofort, und nicht immer die, die wir hören wollen, die wir uns gewünscht haben, sondern im Nachhinein betrachtet immer die, die uns gut getan und uns im Leben und auf unserem Genesungsweg weitergebracht haben. Und diese Antworten wurden manchmal auf recht abenteuerliche Weise an uns herangetragen.
Der dritte Schritt fordert uns also auch auf, uns ganz bewusst auf eine Beziehung mit Gott vorzubereiten und dabei ehrlich zu hinterfragen, ob wir diese Beziehung auch wirklich möchten. Denn wir müssen dafür auch etwas aufgeben, weil wir dann zukünftig, wie in einer richtigen Partnerschaft, nicht mehr einfach alle Entscheidungen alleine fällen werden, sondern nach Möglichkeit immer versuchen sollten, Rücksprache zu halten, und uns mit Gott abzustimmen.
Eines ist jedoch nach der Havarie unseres gesamten Lebens sicher: „Er ist wohl auch der bessere Steuermann, wenn wir unser bisheriges persönliches Versagen einmal wirklich und ehrlich Revue passieren lassen.“
Es ist somit eine absolut persönliche Entscheidung, und deshalb können wir diesen Weg über die Brücke des 3. Schrittes auch nur – jede/r für sich – ganz alleine gehen.
Und dann kommen wir wohl nicht umhin noch unser Leben aufzuarbeiten, Inventur zu machen. Es bleibt uns keine andere Wahl, wenn wir wirklich stabil spielfrei werden und bleiben wollen. Wenn wir wirklich „frei“ – und dies nicht nur vom Glücksspiel – werden wollen. Dazu gehört dann auch, dass wir unsere massiv beschädigten Beziehungen zu Menschen aus unserem persönlichen Umfeld, doch auch zu uns selbst, wieder in Ordnung bringen. Das ist unsere große Aufgabe, unsere persönliche Herausforderung, die in den folgenden Schritten noch auf uns wartet.
Doch dabei sind wir dann nicht mehr alleine unterwegs, wenn wir unser Leben im 3. Schritt dem Gott unseres Verständnisses anvertrauen und ihm die Führung und Leitung übergeben. ©