Fünfter Schritt
„Wir gaben Gott, uns selbst, und einem anderen Menschen gegenüber, unverhüllt unsere Fehler zu.“
Mit dem Schreiben unserer persönlichen Inventur, unserer moralischen und finanziellen Bestandsaufnahme, haben wir etwas geschafft, was uns wohl niemand mehr aus unserem alten Umfeld jemals auch nur ansatzweise zugetraut hätte.
Uns, dem Partner, dem Freund, der sich durch die Spielsucht auch in einem schleichenden Prozess völlig verändert hatte. Der Spieler, der sich von seinem Umfeld, seiner Familie immer mehr abgegrenzt und abgewendet hat, und sie sich von ihm. Uns, dem suchtkranken Spieler, auf den sich niemand mehr wirklich verlassen konnte. Dem niemand mehr vertrauen konnte. Zu Recht. Der beinahe alles im Leben von nicht wenigen Menschen, vor allem in dem seiner engsten Freunde und Familienangehörigen, wie der Elefant im Porzellanladen, zerschlagen, zerstört und vernichtet hat. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Die Krankheit Spielsucht hat uns zu einer unkontrollierbar gewordenen Planierraupe gemacht, die alles um uns herum regelrecht einebnete.
Und am wenigsten haben wir sie uns selbst zugetraut – diese Inventur. Kein Wunder, wenn man bedenkt, wo wie vor nicht allzu langer Zeit noch wirklich standen: am regelrechten Abgrund; ohne sichtbaren Ausweg; ohne wirkliche Lebensenergie; ohne Glauben und Hoffnung auf Besserung, auf Befreiung.
Alles begann mit unserem ersten Meeting
Eines Abends machten wir den wohl wichtigsten Schritt in unserem Leben, als wir über die Schwelle des Gruppenraumes der Anonymen Spieler traten, zu unserem ersten Meeting. Wir brauchten nicht viel zu erzählen. Alle haben genickt, als wir leise, fast andächtig unsere Geschichte, unseren Leidensweg erzählten. Niemand brauchte nachzufragen. Jeder wusste genau von was wir erzählten. Wir waren endlich angekommen. Es fühlte sich an wie ein nach Hause kommen. Wir waren nicht mehr auf uns alleine gestellt, mit der Last unseres Lebens, die uns zusammenbrechen ließ. Das war am Ende unsere Rettung: unser Zusammenbrechen, unser Kapitulieren auf ganzer Linie. Der Raum für einen Neuanfang öffnete sich für uns. Wir hatten Freunde gefunden. Freunde, die uns verstanden, nicht verurteilten. Freunde, die uns unterstützten, auf unserem neuen Weg führten, einfach an die Hand nahmen, als Begleiter, als Sponsoren. Bis wir unseren Weg alleine weitergehen konnten. Die Anonymen Spieler sind nicht nur eine Selbsthilfe-Gruppe, Anonyme Spieler sind eine Gemeinschaft. Gemeinsam unterwegs sein. Es gemeinsam schaffen, spielfrei und dabei geistig gesund und nüchtern zu werden. Der Weg der 12 Schritte. Der Weg unserer Genesung.
Unsere Wahrnehmung und Auffassung, unser Denken, Handeln und unser Tun, unser ganzes Leben begann sich langsam zu verändern. Schritt um Schritt. Jetzt sind wir beim 5. Schritt angekommen. Eigentlich nicht zu glauben, nachdem wir anfangs dachten, dieses Programm ist zu hochgestochen, zu spirituell, zu schwierig um es wirklich umzusetzen. Wir hätten niemals gedacht, dass nach unserer Kapitulation im 1. Schritt dieses Programm eine Eigendynamik entwickelt, wenn wir einer höheren Macht unsere Vertrauen schenken. Doch es ist wirklich so. Wenn wir die leuchtend helle Richtschnur dieses Programms erfassen und aufnehmen, werden wir auf wundersame Weise mit einer Kraft ausgestattet, die uns die Motivationsbereitschaft schenkt, mit Hilfe dieses spirituellen 12-Schritte-Programms, mit Hilfe jedes einzelnen dieser Schritte, unser Leben endgültig aufzuarbeiten und positiv zu verändern.
Wir brauchen die richtige Motivation
Und genau so, mit dieser Motivationskraft haben wir sie niedergeschrieben, unsere Inventur. Ehrlich und aufrichtig. Furchtlos und gründlich. Nichts weggelassen, nichts hinzugefügt. Wir brauen uns nicht mehr zu belügen. Wir haben in den Meetings die Angst vor dem Dunkel unseres Ich´s abgestreift. Wir brauchen uns nicht mehr vor uns zu schämen. Wir sind gut so, so wie wir sind. So, wie unsere höhere Macht uns bedingungslos im 2. Schritt abgeholt und angenommen hat. Wir haben im Gegensatz zu vielen anderen Rückgrat bewiesen. Wir haben klar Schiff in unserem Leben gemacht. Wir haben aufgehört vor uns selbst und unserer Geschichte wegzulaufen. Heute bergen unsere Geschichten und unsere Meetings-Erfahrungen einen unermesslichen Reichtum in sich, mit dem wir anderen, die nach uns zu den Anonymen Spielern kommen, weiterhelfen können, dass auch sie für sich einen Ausweg aus der Spielsucht finden. Denn das sind wir heute, und das bleiben wir: Träger, Fackelträger der Hoffnung, Verwalter und Lebenszeugen unserer Geschichten, Sponsoren aufgrund unserer Erfahrungen, den guten wie den nicht so guten. Und der Gott, so wie ihn jeder von uns für sich versteht, der uns seit dem 2. Schritt auf unserem Weg begleitet, hat aus all dem Schlechten in unserm Leben Gutes gemacht, hat in unsere Dunkelheit sein Licht gebracht. Darum gehört heute alles zu unserem Leben dazu. Alles hat uns geprägt und am Ende stark gemacht. Stark, dass wir diese Inventur schreiben und sie mit dem Menschen unseres Vertrauens durchsprechen konnten. Mit den Schritten vier und fünf haben wir endgültig einen Charakterwandel eingeleitet. Da dürfen wir auch einen Augenblick innehalten und ein wenig stolz auf uns sein. Endlich können wir uns mal wieder selbst auf die Schulter klopfen und zu uns sagen: „Das hast du richtig gut gemacht, obwohl das Schreiben mit so viel seelischem Schmerz und reichlich gefühlter Scham einherging und unweigerlich mit der einen oder anderen nicht zu unterdrückenden Träne verbunden war.“
Wir haben nun alle unsere zugeschütteten und vor allem negativ behafteten Altlasten unseres Lebens in dieser Inventur wie aus einem tiefen und dunklen Bergwerksstollen regelrecht zu Tage gefördert, wo sie fühlbar seit Jahrhunderten eingelagert und verschlossen waren. So gut wie möglich versteckt vor uns selbst und unserem schlechten Gewissen. Und wir sind dabei nicht im Boden versunken. Nicht in Sack und Asche gefallen. Im Gegenteil, es war eine regelrechte Erleichterung, nun endlich alles uns seit Jahren und Jahrzehnten Belastende niedergeschrieben zu haben.
Und wir haben nicht nur negative Eigenschaften bei uns ausgegraben und aufgelistet, oh nein, sondern wir konnten auch so viel positive Charaktereigenschaften bei uns feststellen, dass wir selbst davon überrascht waren. Wir sind, und waren, keine schlechte Menschen, weil wir suchtkrank wurden. Nein, sondern wir sind einfach nur Menschen mit Fehlern, Eigenheiten, Schwächen und Stärken. Doch die Krankheit Spielsucht hatte uns zu großen Teilen schon so weit psychisch beeinflusst, unser Denken und Handeln aufs Massivste manipuliert, dass wir drauf und dran waren, unser ganzes Leben, und dass unserer Nächsten, unserer Familien, unserer Liebsten zu zerstören, nur um dem unwiderstehlich gewordenen Drang und Zwang spielen gehen zu müssen, nachzukommen.
Sinn und Zweck des fünften Schrittes
Über den Sinn und Zweck des fünften Schrittes, für uns und unseren Genesungsweg, mussten wir nicht wirklich lange nachdenken. Einzig und allein unser persönliches Schamgefühl bremst uns hier anfänglich aus. Doch eine Inventur, die wir nur für uns selbst machen und sie nicht einem anderen Menschen gegenüber offenlegen, mit ihm besprechen, gemeinsame Lösungswege erarbeiten, hilft uns nicht entscheidend weiter auf unserem Genesungsweg. Sie gibt uns durchaus vielleicht ein gewisses Maß an Selbsterkenntnis, doch irgendwann werden wir diese Erkenntnisse wieder in irgendeinem dunklen Kellergang unseres Ich´s ablegen und dort staubfrei und sicher vor der Außenwelt deponieren. Wir werden mit Sicherheit nicht in eine richtige und angemessene Aufarbeitung der Erkenntnisse unserer Inventur herangehen. Auch das zeigt unsere Erfahrung, weil viele von uns dachten, sie könnten gewisse Dinge über sich selbst für sich behalten. Weiß ja niemand anderer, außer uns selbst, wer und was wir wirklich waren und sind. Ein trügerischer und gefährlicher Gedanke. So funktioniert es nämlich nicht. Die meisten, die diese Praktik angewendet haben, sind wieder Spielen gegangen, oder einfach nicht mehr in die Meetings gekommen. Oder sie suchten einen einfacheren und bequemeren Weg für sich.
Die Person unseres Vertrauens
Doch für uns, die wir nicht nur den vierten, sondern auch den fünften Schritt konsequent gegangen sind, stand jetzt der nächste Teilabschnitt dieses 5. Schrittes bevor: Die Eröffnung unserer Inventur der Person unseres Vertrauens gegenüber.
Das kann der eigene Sponsor, ein langjähriges, vertrauenswürdiges Mitglied der Anonymen Spieler, oder wie bei vielen von uns, eine von der Gemeinschaft und uns selbst unabhängige und außenstehende Person, wie ein Psychotherapeut, der Sozialarbeiter einer Suchtberatungsstelle, oder auch ein Geistlicher sein.
Dieser Mensch braucht weder einen Doktortitel, noch ein Theologiestudium, oder eine klassisch fundierte psychologische Ausbildung zu besitzen. Was dieser Mensch braucht, sollte es sich nicht um eine qualifizierte Fachkraft handeln, ist Lebenserfahrung, viel Lebenserfahrung. Diese Person sollte verschwiegen sein, zuhören können, verstehen können, sich einfühlen können und selbst gestärkt und geistig gesund im Leben stehen. Und sie sollte Liebe in ihrem Herzen tragen. Eine tröstende Liebe, um uns, der wir ihr mit all unseren aufgeführten intimsten Erlebnissen, Erfahrungen und Gegebenheiten, unseren mangelhaften Charakterzügen und -schwächen, mit unserem gesamten emotional erkrankten Leben gegenübertreten, während dieser Aussprache auch damit auffangen und halten zu können.
Zugegeben, dies sind eine ganze Menge von Eigenschaften, die vorhanden sein sollten, aber die Eröffnung der moralischen Inventur einem anderen Menschen gegenüber, ist die intimste aller nur denkbaren persönlichen Aussprachen, die wir überhaupt in unserem Leben haben können.
Deshalb kreisten bereits schon lange Zeit vor dem Schreiben unserer Inventur, viele unserer Gedanken immer wieder um diesen Schritt, und vor allem um die Person unseres zukünftigen Vertrauens, die einmal lückenlos alles zentral Wichtige und Bedeutende über unser bisheriges Leben erfahren sollte. Um die Person, die all unsere krankhaften Fehlhaltungen, teils wahnhaften und surrealen Gedankengänge und negativen Charaktereigenschaften einmal, wie auf einer Registrierkassenrolle, aufgelistet vor sich liegen haben sollte.
Schon deshalb ist es eine riesige Herausforderung für uns gewesen und hat wirklich ein gewisses Maß an ehrlicher Demut bei uns eingefordert, um diese Inventur überhaupt gründlich und furchtlos niederzuschreiben.
Doch wir sind es angegangen und haben es am Ende auch geschafft, weil wir wussten, dass wir sonst diese heimtückische Krankheit Spielsucht nie richtig überwinden werden, um auch wirklich frei zu werden. Nicht nur suchtfrei, sondern auch geistig frei. Wir kamen dadurch wieder zu einem nüchtern Denken in unserem Leben, im Umgang mit uns selbst und anderen Menschen.
Ängste, die uns von diesem Schritt abhalten können
- Kann ich der Person absolut vertrauen?
- Hat sie Verständnis, Empathie für mich?
- Ist die Verschwiegenheit gewährleistet?
- Kann ich wirklich all meine Verfehlungen, Charakterschwächen ihr gegenüber offenlegen?
- Wie gehe ich mit meinen Schuld- und Schamgefühlen um?
- Bringe ich die dazu benötigte Demut auf?
- Was passiert mit mir, nachdem alles auf dem Tisch liegt, es kein Zurück mehr gibt?
- Wie, oder was, denkt die Person dann über mich?
All diese Ängste und Bedenken sind voll umfänglich berechtigt und müssen auch sehr ernst genommen werden. Deshalb sollte die Auswahl unserer Vertrauensperson mit Bedacht und Weitsicht erfolgen. Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, wenn wir einer Person unser Vertrauen schenken, die dem Klatsch und Tratsch nicht zu widerstehen weiß.
Wir gaben Gott, uns selbst, ...
Unsere Inventur liegt nun geschrieben vor uns. Lückenlos und ehrlich. Jetzt können wir sie in einem Moment der Ruhe und Besinnung uns selbst und dem Gott unseres Verständnisses übergeben. In der Form, in der es für jeden von uns persönlich die Beste ist.
Warum sollten wir Gott gegenüber unsere Inventur überhaupt eröffnen, wo er doch unserem Verständnis nach sowieso alles weiß?
Wir alle geben Fehler nicht gerne zu. Das liegt wohl in der Natur des Menschen. Doch wir alle machen nun mal Fehler. Das Verlangen, uns dann zu rechtfertigen, oft verzweifelt zu argumentieren, wir hätten doch eigentlich nichts wirklich falsch gemacht, die Fehler liegen doch ganz woanders, liegt uns einfach sehr viel näher, als einfach offen und ehrlich einzugestehen, dass wir im Unrecht waren, dass wir Fehler gemacht haben.
Wenn wir uns dazu entschließen, den Weg der ganzen 12-Schritte zu gehen, wenn wir also unsere persönliche höhere Macht, den Gott unseres Verstehens, ganz bewusst im 3. Schritt in unser Leben einladen, ihn daran teilhaben lassen, dann kommen wir schon durch unseren Glauben zu der Gewissheit, dass auch er uns dabei helfen wird, die Hindernisse, die uns bisher in unserem Leben scheitern ließen, aufzudecken und fortan unsere Lebensspur positiv zu verändern. Doch er wird auch immer unsere eigene persönliche Entscheidungs-Freiheit respektieren. Wir können die höhere Macht also einladen und darum bitten, an unserem Veränderungsprozess teilzuhaben, oder auch nicht. Ob sie uns zukünftig bei all unseren persönlichen Angelegenheiten, bei unseren Bemühungen hin zu einem neuen Leben, begleiten soll, oder auch nicht. Ein ständiges Hin und Her aber, mal ein Hüh und dann wieder ein Hott, mal ein Ja, mal ein Nein, bringt uns aber definitiv unserem Ziel, ein zufriedenes und glückliches Leben führen zu wollen, nicht näher.
Wir haben uns im 3. Schritt dazu entschlossen, dass er die Führung übernehmen soll. Er ist der bessere Steuermann.
Deshalb eröffneten wir auch ihm gegenüber die moralische Bestandsaufnahme unseres Inneren, unseres Lebens, ob er nun sowieso alles über uns weiß, oder nicht, ist dabei völlig zweitrangig. Unsere höhere Macht hat das Recht, an dem wohl entscheidendstem Richtungswechsel in unserem Leben beteiligt zu sein.