Sechster Schritt

„Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.“

Wenn wir beim 6. Schritt ankommen, dann haben wir schon eine gewisse Wegstrecke im Genesungsprogramm zurückgelegt. Wir haben kapituliert und unser Spielen zum Stillstand gebracht. Langsam, aber stetig, oder je nach dem auch ziemlich schnell, fanden wir Vertrauen in eine höhere Macht und konnten ihr schließlich unser Leben im 3. Schritt anvertrauen. Wir haben uns mit ihr zusammen an eine gründliche Inventur im vierten Schritt gewagt und uns dadurch jetzt erst richtig kennen-, und endlich wohl auch schätzen gelernt. Denn wir sind das angegangen, wovor viele zurückschrecken, wovor viele Angst haben, was viele wohl auch niemals in ihrem Leben tun werden. Schade eigentlich, denn schon die ersten Anonymen Alkoholiker der frühen Anfangszeit, haben erkannt, dass das 12-Schritte-Programm eigentlich ein Programm für jedermann ist.

Doch wichtig für uns ist, dass wir sie gemacht haben: die Bestandsaufnahme unseres Lebens. Bei uns war sie allerdings auch bitter nötig. Dadurch wissen wir jetzt auch ziemlich genau, wo wir herkamen, wo wir wirklich standen und jetzt aktuell stehen. Was in unserem Leben gut, was nicht so gut und was teils katastrophal schiefgegangen ist und wir zukünftig dringend verändern sollten, wenn wir stabil und dauerhaft spielfrei bleiben wollen. Vor allem was unser Verhalten und unsere Einstellung uns selbst und anderen Menschen gegenüber betrifft. Die Schritte vier und fünf waren für keinen von uns einfach zu gehen. Wir haben praktisch einmal unser ganzes Leben völlig auf den Kopf gestellt und neu sortiert. Wir lernten uns zum ersten Mal richtig kennen, und nun auch endlich erkennen. Mit all unseren guten, von uns und anderen geschätzten Vorzeigeseiten, doch auch mit den dunklen Seiten in uns, in Verbindung mit unseren menschlichen Mängeln und Schwierigkeiten. All dem ganzen Selbstbetrug, all unsere tiefen, persönlichen Verletzungen, die uns am Ende auch zu dem mitgeprägt haben, was wir sind und waren. Es kommt somit einiges zusammen bei so einer Inventur. Gutes, aber bei den meisten, viel mehr nicht so gutes.

Unsere innerliche Anspannung und Ablehnung, auch uns selbst gegenüber, löste sich in langsamen Schritten auf und leitete uns von einer vormals sich oft verkrampft und vernebelt anfühlenden Spielfreiheit, nun in eine immer klarere und bewusster werdende Trocken- und Nüchternheit über.

 

Spielsucht ist mehr als unkontrolliert spielen

 

Unsere Inventur hat uns deutlich aufgezeigt, dass da einiges schief gelaufen ist in unserem Leben. Wir haben außer unserem suchtkranken Spielen und seiner massiven Auswirkungen auf uns und unser persönliches Umfeld festgestellt, dass da vieles in unserem Leben in Schieflage geraten ist und nicht stimmt. Nur alleine mit dem Spielen aufhören, wird nicht ausreichen, um unser gesamtes in Unordnung gekommenes Leben auf eine gesunde Basis, eine stabile Grundlage zu stellen. Wenn wir nur mit dem Spielen aufhören, dann stehen wir genau wieder an dem Punkt, an dem wir irgendwann einmal, aus Gründen, die uns die Inventur offengelegt hat, angefangen haben zu spielen. Wir würden so nur die Reset-Taste drücken und wieder von neuem beginnen. Das mag der eine oder andere vielleicht nicht so gerne hören, aber unsere Erfahrung und die der ganzen Suchtforschung zeigt, dass hinter jeder Sucht, auch der Spielsucht, mehr steckt, als der temporäre Kontrollverlust über das Glücksspiel. Sehr viel mehr.

Das sollte eigentlich jedem einleuchten, der sich ein wenig mit seiner Krankheit Spielsucht auseinandergesetzt hat. Und doch hören wir immer wieder einmal im Meeting einen Freund sagen: „Eigentlich will ich ja nur aufhören zu spielen. Das ist doch mein wirkliches Problem. Das ist doch das, warum ich in die Meetings gehe, warum die Teilnahme wichtig ist. Ich will das Ganze nicht noch unnötig größer machen, als es wirklich ist und nun beginnen in meinem ganzen Leben herumzustochern. Was soll mir das denn bringen?“

Was sollen wir dazu schon sagen? Vermutlich wäre in dem Moment wohl kein Gegenargument richtig und zielführend, um den Freund wirklich zum Nachdenken anzuregen. Vielleicht aber doch.

Ja, können wir dem Freund sagen, die Teilnahme an den Meetings ist wichtig. Sehr wichtig sogar. Und ihm dann versuchen zu erklären, dass unsere lange Erfahrung in den Gruppen uns mehr als deutlich aufgezeigt hat, dass das „eigentliche Spielen“ nur das Symptom ist, das vordergründig bei uns sichtbar wird und die vielen, vielen versteckten Hintergründe unseres Lebens verdeckt und unterdrückt, damit sie nicht an die Oberfläche treten. Nicht sichtbar werden. Nicht ständig Schmerzen verursachen können. Sehr oft tiefgehende seelische Schmerzen. Abgespaltene Traumata-Erfahrungen und vieles mehr. Die Ursachen und Auslöser einer jeden Sucht entstehen fast ausschließlich immer durch Erfahrungen, die irgendwann ein Ungleichgewicht im Leben auslösen. Somit steht der Schmerz, der seelische, meist frühkindlich entstandene Schmerz, im Zentrum einer jeden Sucht.   

Das kann jetzt jeder bewerten, wie er will. Die Suchtforschung sagt es uns. Und unsere Erfahrung auch.

Doch manchmal braucht jemand eine Ehrenrunde. Das kann niemand wirklich verhindern. Viele von uns haben sie gebraucht, diese Extra-Runde. Aber die, die wiedergekommen sind, um nochmal von vorne anzufangen, haben verstanden, dass die Umstände, die uns zum Spielen gebracht haben, nicht einfach nur am Spielen selbst liegen.

Das alles gehört zu unserer Inventur mit dazu. Beim einen weniger, beim anderen mehr. Ganz schön viel, nicht wahr?

 

Unsere persönliche Beziehung zu Gott

 

Die Schritte sechs und sieben des 12-Schritte-Programms beziehen sich in ihrem Kern deutlich darauf, dass bei uns schon die Basis unseres Glaubens vorhanden ist und somit eine persönliche Verbindung zu Gott besteht. Zu unserer Höheren Macht, wie jeder sie für sich persönlich kennengelernt und angenommen hat und wir ihr die Leitung und Führung unseres Lebens anvertraut haben.

Wir erkennen jetzt sehr deutlich, dass alle Schritte aufeinander aufgebaut sind und in einem tiefen spirituellen Zusammenhang stehen. Deshalb sei hier nochmal kurz erwähnt, dass, wenn wir den dritten Schritt nicht richtig, oder nur halbherzig und oberflächlich vollzogen haben, die Schritte sechs und sieben nicht den entscheidenden, tiefgründigen Sinn und Zweck erfüllen können. Eine vorhandene persönliche Beziehung zu Gott ist dabei schon Voraussetzung.

Schon im ersten Schritt mussten wir uns eingestehen, dass sich unsere Sucht durch eine entsprechende Therapie nicht einfach wegmachen lässt, wir sie nicht einfach mal so beseitigen und verschwinden lassen können. Wir mussten uns eingestehen, dass sie ein bleibender Zustand für uns geworden ist. Wir können niemals mehr kontrolliert spielen. Wir sind, was das Spielen betrifft, machtlos geworden.

Aber dem Spielen gegenüber machtlos sein, heißt nicht, dass wir nicht die Ursachen und ihre Wirkungen unserer Spielsucht beseitigen können. Denn genau das passiert auf dem Weg durch die 12 Schritte. Und ganz gezielt in den Schritten vier bis sechs: Die Ursachen und ihre Wirkungen erkennen, benennen, verändern, und wenn nötig, ganz beseitigen. Darum machen wir Inventur, um die Triebkräfte, die zur Unterfütterung unserer Sucht beigetragen haben, zu erkennen. Sie liegen fast ausschließlich in unseren negativ erlebten Erfahrungen, unserem uns angeeigneten Charakterbild, in unserem ungesunden Ego verborgen. Dort sind sie alle zu finden. Und genau dort setzt auch der sechste Schritt gezielt an.

Unsere festgestellten Charakterfehler sind aber nicht Fehler, die uns ewiglich erhalten bleiben, wenn wir auch oft deutliche Schwierigkeiten haben, manche Dinge wirklich zu verändern und loszulassen. Deshalb sollten wir immer am Ball bleiben, stetig in den Schritten weiterarbeiten. Unsere Ausdauer und Zielstrebigkeit wird uns am Ende belohnen. Den Sieg davontragen lassen. Der 12 Schritt sagt uns diesen Sieg voraus.

Wir werden ein Erwachen erleben, ein spirituelles Erwachen, wenn der wahre Feind in uns, unser in uns nicht gesund gewachsenes Ego, bekämpft ist. An seine Stelle sollte auf unserem Weg durch die 12 Schritte irgendwann unsere höhere Macht treten und das Steuerrad übernehmen. Dann können wir unser Ich endlich aus dem Zentrum nehmen, wo es eh nur Unfug und reichlich Schaden angerichtet hat. Wir können uns dann langsam mit all unseren gemachten Erfahrungen befrieden, zur Ruhe kommen nach all der aufreibenden und hektischen Zeit in unserem nicht so einfach verlaufenem Leben.

 

Wir waren völlig bereit, …

 

Am Anfang dieses Buches und in den Schritten haben wir es erwähnt: „Annahme, Bereitschaft und Demut“ sind die Schlüsselworte zu einem spielfreien und nüchternen Leben. In diesen drei doch relativ einfachen Worten spiegelt sich unser gesamtes 12-Schritte-Programm wider. In der Aufzählung dieser drei Worte steckt auch der sechste Schritt in seiner ganzen Komplexität mit drin: „Wir waren völlig bereit, …“  

Unsere Charakterfehler, oder -mängel, sind recht vielschichtiger Natur und einige von ihnen auch richtig kompliziert. Durch unsere Inventur wussten wir das nun recht deutlich, was wir doch alles, immer wieder falsch machen. Die Menschen aus unserem näheren Umfeld wussten es schon sehr lange vor uns.

Vieler dieser Charakterfehler werden automatisiert, praktisch an unserem realen Denken vorbei, aus unserem Unterbewusstsein heraus abgerufen und gesteuert. Darauf werden wir aber noch genauer und konkret im 7. Schritt eingehen.

Und das waren äußerst hartnäckige Dauerbegleiter bei vielen von uns. Teilweise schon fast unser ganzes Leben lang. Manche so hartnäckig, dass wir sie immer und immer wieder wiederholten. Immer begehen wir die gleichen Fehler, legen die gleichen Verhaltensweisen und -muster an den Tag. Die meisten davon sind verbaler Natur im Umgang mit unseren Mitmenschen. Oft eine nicht definierbare innere Wut, ein nicht kontrollierbarer Zorn. Manchmal zerreißt es uns anschließend bei längerem Nachdenken regelrecht und wir würden am liebsten im Boden versinken, oder uns an irgendeinem Ort, wo man uns ja nicht sieht und findet, verkriechen. Schon wieder passiert. Schon wieder. Wer kennt das nicht.

 

Gott gebe uns die Gelassenheit, …

 

Unser Gelassenheitsgebet, das wir zum Schluss eines jeden Meetings zusammen sprechen, sagt viel aus, über Dinge, die wir hinnehmen sollten, die wir nicht ändern können. Das bleibt uns wohl auch bei einigen unserer dauerhaft, sich auf uns und unser Leben negativ auswirkenden Charaktereigenschaften, nicht erspart. Auch sie sollten wir irgendwann als gegeben hinnehmen und sie unserer höheren Macht, dem Gott unseres Verständnisses, übergeben. Ihm voll darin vertrauen, dass er bei unserem Charakterwandel mitwirkt, wo wir selbst machtlos sind. Dass er sie beseitigt, oder uns soweit verändert, um dies selbst irgendwann tun zu können. Damit wir in uns zum Frieden kommen, mit all den noch vorhandenen Schwierigkeiten und wir nicht ständig durch unser schlechtes Gewissen vor uns hergetrieben werden.

Das ist die Kernaussage des 6. Schrittes. Vertrauen in unsere höhere Macht zu haben. Gott nimmt uns bestimmt nicht ab, was wir selbst recht gut verändern können, aber das, was für uns unveränderlich scheint, aus welchem Hintergrund heraus auch immer, das wird er für uns tun. Davon dürfen und sollten wir überzeugt sein. Sonst würden die Schritte keinen Sinn ergeben. Doch unser Genesungsweg und unsere dauerhafte Trocken- und Nüchternheit zeigen eben gerade deutlich auf, dass sie Sinn ergeben. Alle Schritte.

Und eines ist genauso sicher: Wenn wir diese höhere Macht in unser Leben gelassen und ihr die Führung dafür übergeben haben, wird sie mit uns gemeinsam hinabsteigen, in die tiefsten Abgründe unseres Lebens, unserer Erfahrungen, unserer Leidensgeschichte, und beginnt von dort aus, von innen heraus, zu verändern, zu beseitigen, was wir selbst nicht beseitigen können.

Der sechste, und auch der folgende siebte Schritt, fordern somit für die meisten von uns wirklich eine enorme innere Bereitschaft ein, sich auf etwas völlig Neues einzulassen.   

Aber mit einem guten Endergebnis. Deshalb ist es ganz gut, sich bei dem Prozess ein wenig Notizen zu machen, so eine Art Tagebuch zu führen, in dem wir einfach einmal festhalten, was alles so passiert in unserem Leben und wie sich unsere Einstellung dazu und auch unser Charakter dabei positiv verändern.