Siebter Schritt
„Demütig baten wir ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen.“
Eingangs zu diesem 7. Schritt ist es hilfreich, zuerst einmal ein wenig näher auf unser Unterbewusstsein einzugehen, weil es sehr stark unser Denken und Handeln beeinflusst. Es ist gespeist und geprägt von Glaubenssätzen, die wir seit frühester Kindheit gelernt haben. Viele dieser Glaubenssätze sind allerdings überhaupt nicht gesund für die Entwicklung unserer Psyche. Sie schaden uns massiv im Leben, im Umgang mit uns selbst und anderen Menschen. Diese falschen Glaubenssätze prägen somit unser Charakterbild schon seit frühester Kindheit entscheidend mit. Sie entwickeln im Laufe unseres Lebens eine gefährliche Eigendynamik, die uns vor allem durch unser unterbewusst gesteuertes Handeln bekannt ist.
Unser Unterbewusstsein
Wir alle haben uns im Leben ja mit unseren doch recht vielschichtigen Erfahrungen, Facetten und angewöhnten Marotten kennengelernt. Das eine lieben wir an uns, das andere eher weniger. Einiges davon verabscheuen wir, ja hassen wir regelrecht an uns und unserem Verhalten. Wir können das Ungeliebte aber, und wenn doch, nur immer kurzzeitig und temporär, einfach nicht ändern, abändern, oder zumindest positiv verändern. Gewisse negative Eigenschaften lassen sich einfach nicht bei uns abstellen. Sie wiederholen sich immer und immer wieder. Sie kleben wie Kaugummi an den Schuhen an unserem Ich und lassen sich partout nicht abstreifen.
Viele dieser Charakterzüge nehmen mit der Zeit dramatisch krankhafte Züge an. Den Raum für Beispiele lassen wir gezielt offen, denn jeder wird sie bei sich kennen. Und auch die dazugehörenden Gedankenspiele, die dadurch bedingt in unseren Köpfen ablaufen. Sie verschlimmern sich zunehmend, weil auch unsere Willenskraft, unsere Resilienz, um dagegen dauerhaft anzukämpfen, mehr und mehr abnimmt. Es ist nichts anderes, wie der schwindende Kraftverlust beim Übergang vom problematischen zum krank- und zwanghaft süchtigen Spielen.
Charakter hat viel mit Erziehung und Prägung, in Teilen auch mit der menschlichen Genetik zu tun. Doch sehr vieles wird im Laufe des Lebens durch uns selbst geprägt, gehegt und gepflegt, bis es unabhängig von einer klaren Kopfentscheidung, ständig durch unser Unterbewusstsein abgerufen wird. Und dann tun wir Dinge immer und immer wieder, verletzen dadurch ständig andere Menschen, und auch uns selbst, obwohl wir dies eigentlich nicht wollen, nicht mehr wollen.
So gibt es Prägungen, die aus unserem Unterbewusstsein positive Handlungen automatisiert abrufen können, aber, und um die geht es im 7. Schritt, auch negative. Und die sind leider meistens in der Überzahl.
Alles hat also auch immer zwei verschiedene Seiten, auch unser Unterbewusstsein. Und eine davon entwickelt sich meist unangenehm und gefährlich für unser Leben. Die gilt es mit der richtigen Verantwortlichkeit zu betrachten.
Spätestens an dieser Stelle angekommen, müssen wir uns die zentrale Frage stellen: „Haben wir auf uns gestellt, wirklich den Einfluss und die Macht dazu, unser doch so oft von selbst reagierendes Unterbewusstsein so zu steuern, dass wir unsere Entscheidungen und Taten bewusst treffen und handhaben können?“
Diese Frage mussten wir für uns zu großen Teilen mit Nein beantworten. Nein, wir können es nicht. Diesen tiefen Einfluss auf unser Unterbewusstsein haben wir nicht. Und wir werden ihn wohl auch trotz guten Willens nicht aus uns selbst heraus bekommen, oder wirklich erarbeiten können.
Nur diese höhere Kraft hat diesen Einfluss auf unser Unterbewusstsein, auf unseren innersten Kern. Ihre Wirkungskraft arbeitet dort weiter, wo wir selbst nicht mehr dazu in der Lage sind, was wir aus uns selbst heraus nicht schaffen können.
Denn auch diese höhere Macht, können wir ja nicht wirklich nur mit unserem Verstand erfassen. Alleine mit unseren Gehirnstrukturen, werden wir auch keine tiefgehenden geistigen Gotteserfahrungen machen können. Nur all unsere bisher persönlich gemachten, wirklich und real erlebten Glaubenserfahrungen zeigen uns deutlich und sicher auf, dass dieser Gott, diese nicht greifbare höhere Macht, wirklich und wahrhaftig existiert.
Und somit kann auch nur Gott unser Unterbewusstsein, und alles was dazu gehört, positiv verändern. Kann aus jeder schlechten Eigenschaft eine gute wachsen. Wenn wir die Bereitschaft entwickelt haben, es auch zuzulassen. Wenn wir ihn in unser Leben hineinlassen und darum bitten. In Demut.
Demütig baten wir ihn, ...
Das Wort, oder der Begriff Demut, begegnet uns nur ein einziges Mal im 12-Schritte-Programm, in diesem 7. Schritt. Demut bedeutet kurz gesagt: ehrlich zu sich selbst sein; interessiert sein am Wohlergehen anderer; seine persönlichen und menschlichen Grenzen zu akzeptieren und zu wahren.
Und deshalb begleitet uns die Demut, wenn auch anfangs noch unbewusst, schon seit dem 1. Schritt. Denn ohne Demut wären wir auf unserem bisherigen Genesungsweg nicht vorwärtsgekommen. Ohne Demut hätten wir im 1. Schritt nicht vor unserer Sucht kapitulieren und uns unser persönliches Scheitern eingestehen können.
Der Weg der Demut beginnt also zwangsläufig schon bei unserer Kapitulation. Allerdings nur, wenn wir diese ehrlich und aufrichtig vollziehen. Wenn wir absteigen von unserem hohen Ross der Selbstverliebtheit und des Stolzes. Demut bedeutet also den Mut aufzubringen, hinabzusteigen vom Hochsitz unserer Eitelkeiten. Wenn wir uns ehrlich eingestehen können, dass die Spielsucht uns wirklich besiegt hat, und dass wir es ohne fremde Hilfe nicht mehr schaffen werden, aus all unseren Schwierigkeiten herauszukommen. In dieser Demutshaltung geben wir vorbehaltlos zu, dass wir unser Leben nicht mehr meistern können.
So beginnt der Weg der Genesung im 12-Schritte-Programm; so beginnt die Demut in unserem Leben Form und Gestalt anzunehmen. Die Demut brauchen wir auf diesem Weg, wenn wir in den Schritten hinabsteigen in die Tiefen unserer Menschlichkeit, unserer Lebenserfahrungen, unserer ganz persönlichen Geschichte, unseres Seins, unserer Seele; und uns dort in der Wahrheit zum ersten Mal selbst richtig und ehrlich begegnen werden.
Nur mit ehrlicher Demut können wir also an die nun folgenden und nicht einfachen Aufgaben herangehen, die vor uns liegen. Somit beginnen wir schon beim 1. Schritt damit, gewisse negative Eigenschaften abzulegen. Wir versuchen unserem Leben eine neue Orientierung, eine neue Ausrichtung und angestrebte Zielsetzung - vor allem die der dauerhaften Spielfreiheit - zu geben, weil uns klar geworden war, dass wir so einfach nicht mehr weiterleben konnten, und auch nicht mehr wollten. Wir übergeben unser Leben Schritt für Schritt in eine neue Ordnung. Zwangsläufig rücken wir dadurch unser durch die Sucht manipuliertes Selbst in die richtigen Proportionen, heraus aus dem Zentrum, wo sich alles krankhaft nur noch um unser Ich drehte.
Da wir auf unserem Weg durch die vergangenen sechs Schritte den Gott unseres Verstehens und Vertrauens bereits in unser Leben hineingelassen haben, wird uns bei Umsetzung des 7. Schrittes dessen Allmacht und Größe erneut richtig bewusst. Dann, wenn wir zum Glauben gekommen sind und uns im 3. Schritt ganz bewusst seiner Fürsorge unterstellt haben. Bei unserer Arbeit im 7. Schritt haben wir nun eine für unser Leben entscheidende Tiefe im 12-Schritte-Programm erreicht.
Hier, in diesem 7. Schritt angekommen, wissen wir nun auch mit Gewissheit, dass der Weg durch die 12 Schritte kein einfacher ist. Er verlangt von jedem Einzelnen einiges an redlicher Mühe, ehrlicher Annahme, aufrichtiger Bereitschaft und gelebter Demut ab.
Demütig bitten bedeutet deshalb zuallererst einmal, uns als Person, als Mensch, in unserer wirklichen Größe zu erkennen. Das Ergebnis über die unverfälschte Erkenntnis unserer Größe spiegelt sich für jeden persönlich in seiner Inventur wider. Dazu gehört, dass wir gelernt haben, uns in unseren wahren Grenzen richtig einzuordnen und diese Grenzen zukünftig nicht mehr durch unser krank gewordenes Ich ziehen und bestimmen zu lassen. Danach sollte uns ein noch freierer und ungetrübterer Blick auf die Größe unserer höheren Macht möglich sein, sodass wir ihrer Gegenwart und Wichtigkeit für unser Leben immer mehr und immer deutlicher bewusst werden. Deren wahre Größe erkennen wir allerdings meist erst dann wirklich und überzeugt an, wenn wir schon zum Glauben gekommen, oder zumindest auf dem richtigen Weg dazu sind. Wenn wir uns seiner Fürsorge bereits unterstellt haben, oder dabei sind, dies zu tun.
Wir befinden uns aktuell und zukünftig nun in einem ständigen Erneuerungsprozess und geben dabei gewisse doch recht liebgewordene Lebensgewohnheiten, die aber nie gesund für uns und unser Leben waren, nach und nach auf. Oft empfinden wir dabei einen unangenehmen Trennungsschmerz. Aber der gehört dazu, wenn etwas Neues im Leben entsteht und das Alte zwangsläufig dadurch weichen muss. Bildlich betrachtet beginnt das alte Ich langsam zu sterben, damit das neue Leben entstehen und wachsen kann, geht jeder Auferstehung auch eine Kreuzigung voraus.
Wir alle haben in unserem Leben, im ganz normalen Alltag, in Glaubensgemeinschaften oder unserem Freundeskreis, bestimmt schon viele demütige Menschen kennengelernt; und als suchtkranke Spieler auch in den 12-Schritte-Gruppen, nachdem langsam unser Verstand begonnen hatte wirklich spielfrei und nüchtern zu werden, um diese Menschen zu erkennen.
Demütige Menschen strahlen meist eine ganz besondere, tiefdurchdringende und inspirierende Art der Gelassenheit auf uns aus. Gerade auf uns, die wir trotz allem Fortschritt in unserer Genesung doch noch viel zu oft auf unserem hohen Ross der Eitelkeiten unterwegs sind.
Wahre Demut beinhaltet jedoch nicht nur Gelassenheit, sondern auch Sanftmut, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Aufmerksamkeit, Bereitschaft, Weitsicht, Nächstenliebe, Selbstdisziplin, Selbstachtung, Achtung vor dem Mitmenschen, und ein tiefer Glaube an den Schöpfer allen Seins, wie Diesen auch jede/r für sich versteht.
..., unsere Mängel von uns zu nehmen.
So beginnen wir, nicht erst im 7. Schritt, doch in diesem jetzt ganz bewusst, unser Verhalten im täglichen Umgang mit unseren Mitmenschen, aber auch mit uns selbst, zu beobachten und zu reflektieren. Ziel dieser Aufmerksamkeit auf uns und unser Verhalten, ist es, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, um durch das Widerspiegeln einen Charakterwandel einleiten zu können.
Mit Sicherheit werden wir dabei auch zwangsweise einige enorme persönliche Anstrengungen aufbringen müssen, um Veränderungen gezielt einleiten zu können, die uns vor allem anfangs keinen allzu großen Spaß machen werden, die alles andere als Freude und Lust bereiten, weil die persönliche Veränderung unseres Verhaltens auch immer ein harter und aufreibender Arbeitsprozess ist. Der 7. Schritt setzt jedoch voraus, dass wir den dazu benötigten Mut, die erforderliche Energie und innere Bereitschaft aufbringen, charakterlich auch das an uns zu verändern, was uns bisher nicht wenige Male in erhebliche Schwierigkeiten gebracht hatte, wie wir bei unserer Inventur im 4. Schritt feststellen mussten.
Denn eines zeigen nicht nur die Erfahrungswerte aller Schrittegemeinschaften, sondern auch das Leben allgemein und deutlich auf: „Der Gott, dem wir unser Leben im 3. Schritt anvertraut haben, verteilt keine Geschenke der Bequemlichkeit an uns, damit wir schlafend zu einem charakterlich neuen und besseren Menschen heranwachsen. Auch kein Götter-Bote ‚Hermes' schickt uns unser Neues Leben per Paket-Express-Zustellung sorgen-, gebühren - und barrierefrei ins Haus.“
Nein, nur was wir wirklich nicht im Stande sind an uns zu verändern, das wird dieser Gott, diese höhere Macht, diese Kraft größer als wir selbst, für uns in Liebe tun. Und genau hier, an diesem Punkt in unserem Leben, auf unserem Genesungsweg durch die Schritte, beginnt unsere Aufrichtigkeit, Bereitschaft und Demut im Geiste des 7. Schrittes diesen Gott darum zu bitten, unsere Mängel von uns zu nehmen, weil wir selbst nicht dazu in der Lage sind, wie schon im ersten Abschnitt beim Thema Unterbewusstsein angesprochen.
– Im ursprünglichen Manuskript zum „Big-Book“ der amerikanischen Anonymen Alkoholiker von 1938, stand in der Urfassung der 12 Schritte, deren Konzept der Mitbegründer der Anonymen Alkoholiker Bill W. nach einem Gebet, in dem er um Gottes Führung bat, und die er dann in einer Nacht niedergeschrieben hat, im 7. Schritt noch: „Demütig, auf unseren Knien, baten wir ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen - rückhaltlos.“ –
© Ursprungtext 7. Schritt, Blaues Buch der AA von 1938, S. 68
Wenn wir uns also wirklich dazu entschlossen haben, den Weg der 12 Schritte zu gehen, um unsere Sucht endgültig zum Stillstand zu bringen, werden wir spätestens an dieser Stelle klar erkennen, dass der 7. Schritt für uns und unser Leben eine sehr ernste und spirituell tiefgehende Angelegenheit ist, bei der wir uns erneut ganz bewusst unter die Führung unseres Gottes und seinen Heilungsprozess stellen. In Demut.
Durch den Glauben an eine Macht, größer als wir selbst, können und werden wir schrittweise eine Wandlung in unserem Leben durchlaufen und von (selbst)zerstörerischen Verhaltensweisen und negativen Charaktereigenschaften befreit werden, die uns auf einem weitergeführten Weg durch die Sucht sonst mit Sicherheit zu Grunde gerichtet und zerstört hätten.
Dann werden wir auch an uns selbst erkennen und erleben können, dass der Glaube – Schritt um Schritt – wirklich und wahrhaftig Berge versetzen kann, und dies nicht nur eine biblische Redewendung aus einer alten, längst vergangenen und vergessenen Zeit darstellt.
Mit dem 7. Schritt vollziehen wir nun endgültig eine Umkehr. Unsere alte Lebenshaltung erstirbt durch den Einfluss der gewachsenen Demut in uns zwangsläufig. Langsam und stetig erfolgt eine Umkehr von unserem alten, selbstsüchtigen Leben, das uns und unserem Umfeld nichts als Schmerz, Leid, Angst, Hoffnungslosigkeit und bittere Not zugefügt und hinterlassen hat, hinein in ein neues, sinnvolles und suchtbefreites Leben.