Vierter Schritt
„Wir machten gründlich und furchtlos eine moralische und finanzielle Inventur in unserem Inneren.“
Den Begriff der Inventur kennen ja die meisten von uns aus dem Geschäftsleben. Eine gut geführte Firma, ein guter Kaufmann, macht – meist einmal im Jahr – eine große Inventur, eine ordentliche betriebliche Bestandsaufnahme und Feststellung seiner Lagerbestände. So erhält er also regelmäßig eine für sein Unternehmen wichtige Bilanz darüber, was sich gut verkauft hat und was eher als Ladenhüter anzusehen ist, was aussortiert werden und durch andere Produkte, die sich dann voraussichtlich besser verkaufen lassen, ersetzt werden sollte.
Die aufgeführten Ergebnisse zeigen ihm die positiven, gut verkäuflichen Waren, und die negativen, eher schlecht abzusetzenden Produkte an, die seinem Betrieb auf Dauer eher schaden können und vermutlich auch werden. Er listet also Positives und Negatives auf und zieht dann Bilanz.
In der Regel bleibt dann auch der Betrieb für die Kunden geschlossen. Eine gute Inventur braucht also auch einen guten, ruhigen Rahmen und eine richtige Vorgehensweise und ihre ganz eigene, richtige Zeit. So nimmt sie dann auch eine gewisse, ihr jedoch zustehende Dauer für sich in Anspruch. Sie kann nicht mal schnell so nebenbei zwischen Tür und Angel gemacht werden, wenn die weitere Zukunft des Unternehmens sich positiv entwickeln soll.
Wenn wir jetzt aufmerksam zwischen den Zeilen gelesen haben, dann wissen wir schon, was es bei unserer persönlichen Inventur zu beachten gilt und in unserem Inneren auf uns zukommt, welche moralische und finanzielle Bestandsaufnahme erforderlich ist, um unser erwünschtes und ersehntes Projekt eines zukünftig suchtfreien Lebens nicht zu gefährden.
Nach den ersten drei geistigen Schritten, wartet nun im 12-Schritte-Programm – die Reihenfolge der Schritte einmal berücksichtigt – also der erste Arbeitsschritt auf uns. Und der hat es in sich.
Grob aufgeteilt besteht das Genesungsprogramm aus den sechs geistigen Schritten: 1, 2, 3, 6, 7 & 11, und den sechs Arbeitsschritten: 4, 5, 8, 9, 10 & 12.
Die moralische Inventur
Der 4. Schritt ist also der Ausgangs-, der Start-Schritt, worauf die noch folgenden Arbeitsschritte aufbauen werden. Deshalb ist er auch als so zentral wichtig anzusehen, als ein Eckstein für das zu bauende Haus unseres neuen, suchtfreien Lebens, weil wir bisher in unserem Leben mit einem völlig falsch gezeichneten und verzerrtem Selbstbildnis von uns unterwegs waren.
Wenn wir Inventur machen, gehen wir von unserem Ich aus. Wir durchleuchten das eigene Leben und entdecken dabei die Irrwege, auf denen wir eine zu lange Zeit schon unterwegs waren, und sind. Das persönliche Ich ist sozusagen unser „Inventur-Betrieb“, für den wir eine ehrliche Gesamt-Bilanz erstellen, um für unsere Zukunft eine gesunde Entwicklung anzustreben. Dazu bedarf es einer furchtlosen Aufstellung und Betrachtung unserer positiven und negativen Charaktereigenschaften. Oft wissen wir, wo unsere wahren Schwierigkeiten im Umgang mit uns selbst und anderen Menschen liegen, oder erahnen es zumindest. Doch wir wagten es bisher nicht, diese offen zu legen, zu analysieren, Veränderung anzustreben, um damit einen Charakterwandel einzuleiten. Es tut zu sehr weh, die wirkliche Wahrheit über sich selbst zu entdecken, oder besser gesagt, aufzudecken. Eine Sucht entwickelt sich fast immer aus einem gestörten, nicht richtig und gesund entwickeltem, egozentrischem Charakter. Sucht ist somit das Spiegelbild eines gestörten Gesamt-Charakter-Bildes, eines krankhaften Egoismus.
Wir wussten, dass wir so, wie wir uns anderen gegenüber darzustellen versuchten, in Wirklichkeit überhaupt nicht waren. Dazu ein paar Beispiele: stark, intelligent, selbstsicher, gut betucht, erfolgsbewusst und zielorientiert, so wollten wir sein. So wollten wir uns auf Teufel komm raus darstellen. Perfekt und unwiderstehlich. Das waren unsere Wunschgedanken für uns. Nur keine Schwächen den anderen gegenüber zeigen. Die eigene Sensibilität gewaltsam unterdrücken. Stark sein. Die Kontrolle übernehmen und behalten. Immer den guten Schein wahren. Zeigen, was man hat, was man ist, was man kann.
Doch wie sah es wirklich in uns aus? Wie fühlten wir uns wirklich? Wie fühlten wir uns vor allem all die Jahre in der Sucht? In einer Sucht, die Spiel um Spiel sämtliche Lebensenergie aus uns heraussaugte. Wie ein Vampir ist sie über uns und unser gesamtes in Mitleidenschaft gezogenes Umfeld hergefallen, die Geißel Spielsucht. Innerlich zerrissen fühlten wir uns. Zerrissen und verloren gegangen in einem tiefen dunklen Abgrund. Gefangene im krankhaft gewordenen Spiel der Ambivalenz von Schauspiel und Realität, von Traum und Wirklichkeit.
In uns drin waren wir eigentlich immer genau das Gegenteil von dem, was wir nach außen darzustellen versuchten. Aber keine Panik, keine Angst, keine Scham, da sind wir süchtig gewordenen Spieler bei weitem keine Ausnahmen, sondern die Regel, die Norm in einer Gesellschaft, in der so oft der, der sich schwach, hilfsbedürftig, unperfekt, demutsvoll und ehrlich zeigt, nicht selten einfach mundtot gemacht und niedergetrampelt wird. Nicht immer, aber leider doch viel zu oft.
Hier ist bewusst ein wenig überspitzt formuliert, aber wir denken, wir liegen durchaus nicht falsch mit diesen Aussagen, bzw. Einschätzungen, dem Spiegelbild unseres eigenen Charakters und den damit gemachten Erfahrungswerten.
Dies alles sind nicht wenige Male auch unterbewusst vorgeschobene Gründe dafür gewesen, warum wir uns am Ende durch dieses falsch gezeichnete und bühnenreif inszenierte Bild eines perfekt scheinenden Menschen in die Sucht flüchten mussten, um nicht noch ganz wahnsinnig an uns selbst und unseren unrealistischen, realitätsfernen Wunschvorstellungen und Fantasieträumen zu werden, für deren Umsetzung wir aber niemals auch nur ansatzweise bereit waren uns anzustrengen und etwas dafür zu tun. Nein, dies alles sollte uns dann doch der große Gewinn möglich machen.
Das erkrankte Ego
All die vorgenannten Verhaltens-Muster sind nur die Randerscheinungen eines Menschen, der eine selbstzerstörende Suchtbiografie gestartet hat und diese durchläuft. Sie sind nur ein Teil unseres sich krankhaft entwickelnden, ungesunden Egos. Des wahren Feindes in uns, dem wir uns in unserer Inventur stellen werden müssen.
Zur Prägung unseres ungesunden Charakter-Bildes haben mit Sicherheit viele Dinge in unserem Leben eine richtungsentscheidende Rolle gespielt, die einer genauen Betrachtung bedürfen. Diese Ergebnisse sollen dann zu keinen weiteren Ausreden für uns und unser Suchtverhalten werden. Wir wollen uns nicht (mehr) als Opfer betrachten, sondern als Menschen, die sich ihrer persönlichen Verantwortung für ihr Leben nun bewusst geworden sind. Wir wissen, dass wir jetzt aufgefordert sind, die volle Verantwortung für unser Tun und Handeln zu übernehmen und dürfen uns hinter nichts mehr verstecken. Das haben wir zu lange in unserer Suchtzeit getan und uns dadurch unser Verhalten gerechtfertigt.
Doch es ist nun mal so, dass wir uns nur zu Teilen selbst prägen. Die eigentliche Prägung erfolgt immer durch das Elternhaus, durch die Erziehung, durch das, was wir täglich sehen und erleben, erfahren und erdulden. Gutes und nicht so Gutes. Schönes und Erschreckendes. Wir prägen uns als heranwachsende Kinder nie selbst. Bei suchtkrank gewordenen Menschen spielen oftmals chaotische Familienverhältnisse und erlebte Traumata-Erfahrungen, die wir stets unterdrücken und abspalten müssen, weil wir sonst gar nicht überleben können, genauso eine Rolle, wie: die Schulzeit, das Arbeitsleben, bzw. die Arbeitskollegen, falsche, ungesunde Freundschaften und die persönlichen Partnerschaften und Liebesbeziehungen, die oft auch selbstsüchtig, ungesund und toxisch verlaufen und geführt werden.
Es gibt also eine Menge von jetzt hier als Beispiel zuerst einmal aufgeführten Lebenserfahrungen und negativen Charakterzügen und -eigenschaften. Doch in der Bilanz unserer Inventur, der Bestandsaufnahme unseres Lebens, werden auch all unsere positiven Eigenschaften aufgeführt sein. Und auch da gibt es ebenso viel für uns niederzuschreiben. Nur die empfinden wir vordergründig oft nicht sofort als solche, weil all das Negative das Positive zu überdecken, zu verschlucken scheint.
Wir sind von Grund auf keine schlechte Menschen, sondern einfach nur Menschen. Menschen mit Schwächen, mit Träumen, unerreichbar gewordenen Zielen, aber auch mit richtig vielen und guten Stärken. Menschen, geprägt und geformt aus guten und schlechten Erfahrungen. Das macht am Ende das Mensch sein aus. Und es ist nie zu spät, um Veränderung zu schaffen. Nie zu spät, um unser Leben in ruhigeres Fahrwasser zu steuern. Nie zu spät, um zum Glauben an sich selbst und seine Stärken zu kommen. Nie zu spät für die Hoffnung.
Eine dieser Stärken davon ist, dass wir charakterlich in den Gruppen schon so stark gereift sind, dass wir furchtlos diese Inventur im 4. Schritt angehen. Da sind wir vielen, vielen anderen, weit, sehr weit voraus. Denn dazu gehört Mut. Richtiger Mut, und Verantwortung für uns und unser Leben. Dazu gehören Annahme, Bereitschaft und Demut. Da sind sie wieder, die drei Begriffe, die uns durch das ganze 12-Schritte-Programm begleiten werden. Denn die persönliche Inventur im 4. Schritt ist die ehrlichste und intimste Art aller Begegnungsmöglichkeiten, die wir mit uns selbst haben können. Und wenn wir vor dieser Begegnung in den Tiefen unseres Bewusstseins und den Abgründen unseres Lebens keine Angst mehr vor uns selbst und unserer Geschichte haben, vor allem, was uns am Ende als ganzen Menschen wirklich ausmacht, dann haben wir einer der größten positiven Charakterzüge in uns entdeckt, die ein Mensch besitzen kann. Darauf kann jeder, der seine Inventur ehrlich und aufrichtig niederschreibt und sie seiner höheren Macht und einem Menschen seines Vertrauens mitteilt und danach mit ihm im 5. Schritt bespricht, wirklich und wahrhaftig stolz sein.
Die Inventur sollte also wie beschrieben: gründlich, furchtlos, ehrlich und aufrichtig von uns geschrieben werden. Sonst macht sie keinen Sinn und schadet uns am Ende mehr, als sie uns den erhofften und angestrebten Nutzen für unser Leben bringt. Noch mehr Selbstbetrug können wir uns nämlich nicht mehr erlauben, wenn wir wirklich von der Sucht genesen und geistig nüchtern und frei werden wollen.
Wenn wir diese Inventur also richtig angehen und durchführen, werden wir zu großen Teilen auch erfahren und wissen, aus welchen Motiven und versteckten Hintergründen heraus wir spielten und am Ende süchtig geworden sind.
Die finanzielle Inventur
Entgegen anderer 12-Schritte-Gemeinschaften haben die Anonymen Spieler den vierten Schritt, in weiser Voraussicht, um die finanzielle Inventur erweitert.
Es gibt viele süchtige Spieler, die anfangs so schnell wie möglich auch finanziell und materiell wieder genesen wollen. Deren Hauptaugenmerk ganz und gar auf einer möglichst schnellen Schuldenregulierung und -tilgung liegt. Viele übernehmen sich allerdings dabei, in dem sie zu große Ratenzahlungen vereinbaren.
Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass auch die materielle Wiedergutmachung seine ihr eigene und vernünftig angemessene Zeit braucht, um die negativen finanziellen Hinterlassenschaften einer langjährigen Spielsucht wieder in Ordnung zu bringen. Denn auch durch eine zu schnelle Schuldentilgung, können wieder neue Verletzungen im Zusammenleben mit dem Partner, mit der Familie entstehen und sich auch negativ auf den ganzen Genesungsprozess und unseren nun eingeschlagenen Weg auswirken.
Der vernünftige Bezug zum Geld ging uns verloren
Der Wert des Geldes hat sich für uns während unserer Spielsucht einer Wandlung unterzogen. In der Regel wurden alle Wertgegenstände zu Spielgeld gemacht, alle Kreditkarten ausgereizt und alle Girokonten bis zum Anschlag überzogen. Es wurden Schulden über Schulden gemacht. Alles war nur noch Spielgeld. Alles wurde nur noch eingesetzt, um den großen Treffer zu erzielen, den großen Gewinn einzufahren.
Die offenkundige Wirklichkeit der finanziellen Tragkraft unserer eigentlichen Lebensverhältnisse und unserer materiellen Möglichkeiten, ging uns dabei völlig verloren. Wir hatten jeglichen Bezug für unsere finanzielle Realität verloren. Sie wurde im Laufe unserer fortschreitenden Krankheit Spielsucht, durch all die schönen Traum- und Phantasievorstellungen des schnellen und großen Gewinns, des schellen Reichtums, ersetzt. Ein Leben zwischen Großmannssucht und krankhaftem Geiz gegenüber allem, was nicht zur unmittelbaren Stillung unserer Spielbesessenheit beitrug. Geld war für uns nur noch das Mittel zum Stillen unserer unstillbaren Spielleidenschaft.
Und diese Gefühle, über unbegrenzte finanzielle Mittel zu verfügen, lösen sich nach unserem letzten Spiel nicht einfach so von alleine auf. Wir haben über lange Zeit ein krankhaft gestörtes Verhältnis zum Geld entwickelt. Dies gilt es zu erkennen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, um auch für eine gesunde finanzielle Genesung zu sorgen.
Die Gefahr verfügbarer finanzieller Mittel
Die Gefahr eines Rückfalles ist bei einem suchtkranken Spieler nicht nur durch die ständige Verfügbarkeit von Glücksspielen aller Art und dem in der Regel unbegrenzten Zugang zu Spiel- und Wetteinrichtungen vorhanden, sondern auch, und dies im Besonderen, durch den freien Zugriff auf Bargeld, oder die Verfügungsberechtigung über andere finanzielle Quellen und Möglichkeiten zur Geldbeschaffung.
Anfänglich sollten wir unsere finanziellen Angelegenheiten einer Person des Vertrauens, unserem Partner, oder in professionelle Hände, wie die einer Schuldnerberatung, übergeben, um die Deckung unserer laufenden Haushaltsausgaben nicht zu gefährden, bis ein gesunder Bezug zum Geld wieder hergestellt ist.
Deshalb bedarf es auch einer gründlichen und furchtlosen finanziellen Inventur. Doch unsere problematische finanzielle Situation nach unserem letzten Spiel, ist dann meist auch durch einen gut durchdachten Haushaltsplan und einer vernünftigen Schuldentilgung noch am einfachsten zu lösen. Unsere große Baustelle und wohl auch anhaltende Lebensaufgabe bezieht sich auf unsere moralische Inventur.
Warum überhaupt Inventur?
Das „Warum“ all unserer Bemühungen, auch das der Inventur, auf unserem Weg in der Gemeinschaft der Anonymen Spieler und durch die 12-Schritte zur Genesung, steht in unserer Präambel niedergeschrieben: „Unser wichtigstes Anliegen ist es, mit dem Spielen aufzuhören und anderen süchtigen Spielern zu helfen, es auch zu schaffen.“
Darauf sollten wir all unsere Kraft und unser Augenmerk legen. Dafür sollten wir alles bereit sein zu tun. Denn unser Leben ist zu wertvoll, um es einfach an die Wand zu klatschen und es – im wahrsten Sinne des Wortes – zu verspielen.